Exkurs - „Polenaktion“ 1938 – Hintergrund, Ablauf und Zeugnisse von Überlebenden
Ende Oktober 1938 wurde eine der ersten großangelegten Deportationsaktionen des NS-Regimes gegen Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich durchgeführt: die sogenannte „Polenaktion“. Innerhalb von nur zwei Tagen, am 28. und 29. Oktober, wurden mehr als 17.000 Menschen mit polnischer Staatsangehörigkeit, ein Teil davon seit Generationen in Deutschland ansässig, gewaltsam verhaftet und an die deutsch-polnische Grenze verschleppt.
Hintergrund und Vorgeschichte
Grundlage war ein Erlass der polnischen Regierung, der vorsah, jüdischen Bürgern mit dauerhaftem Auslandsaufenthalt zum 31. Oktober 1938 die polnische Staatsangehörigkeit zu entziehen, falls sie sich nicht rechtzeitig zur Registrierung in Polen einfanden. Die Nationalsozialisten nahmen dies zum Anlass für eine rabiat geplante Abschiebungsaktion, die nicht nur Menschen aus ihren Wohnungen riss, sondern auch Existenzgrundlagen zerstörte.
Ablauf der Deportation
Die Verhaftungen begannen mit dem Erlass praktisch über Nacht. Menschen wurden aus ihrem Alltag herausgenommen – teilweise von der Arbeit, aus der Schule oder dem Zuhause – und hatten oft nur wenige Minuten Zeit, das Nötigste zu packen. Die Deportierten durften meistens lediglich einen Koffer und geringfügigen Proviant mitnehmen; was zurückblieb, war ihr gesamtes Hab und Gut.
Mit Sonderzügen wurden die Betroffenen an die deutsch-polnische Grenze, vor allem nach Zbąszyń (deutsch Bentschen), gebracht. Dort erwartete viele eine humanitäre Katastrophe: Die polnischen Grenzbehörden waren unvorbereitet und verweigerten zunächst die Aufnahme. Zahlreiche Menschen, darunter Kinder und alte Personen, mussten tagelang bei kältesten Witterungsbedingungen im Niemandsland ausharren – ohne ausreichend Nahrung, Wasser oder medizinische Versorgung.
Folgen für die Deportierten
Die „Polenaktion“ war für viele Menschen ein traumatischer Einschnitt: der Verlust von Wohnung, Beruf und Besitz bedeutete den Beginn eines langen Leidensweges. Die Vertreibung war ein erster, systematisch organisierter Schritt zur Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich. Viele Deportierte sahen sich gezwungen, in schwierigen polnischen Grenzstädten zu überleben, einige mussten weiter fliehen oder wurden später Opfer von Deportationen in Ghettos und Konzentrationslager.
Zeugnisse von Überlebenden
„Wir wurden mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Niemand sagte uns, wohin wir gebracht werden. Wir hatten nur unseren Koffer, mehr nicht. An der Grenze standen wir stundenlang im Regen – kein Essen, kein Wasser, und niemand half uns.“ – Unbekannte Überlebende
„Das Größte war die Unsicherheit. Niemand wusste, ob wir je zurückkehren oder wo wir landen würden. Die Kälte, die Angst und die ständige Frage: Wann endet das? Jeder von uns trug die Erinnerung an Verlust und Entrechtung für immer in sich.“ – Zeuge der Polenaktion 1938, später in einer Befragung 1946
10. Nomansland ... Wir ziehen an schadenfrohen Soldatenhorden vorbei, die ängstliche Judengesichter photographieren und in ihrer brutalen Gewalt versuchen die jüdischen Menschen in das Niemandsland mit den Bajonetten hineinzutreiben. Drüben sah man 4 polnische Grenzbeamte, denen die Masse wehrloser Juden gegenüberstand, die den Drohungen der deutschen Soldaten nicht Folge leisteten und wie eine Mauer zwischen den beiden Landeskirchengrenzen sich hielten.
Als die Drohungen mit den Bajonetten verstärkt wurden und ein Zurück mit dem Erschießen drohte, da gab es nur ein Ziel: das Rennen zur polnischen Grenze: Eine Mauer von Menschen bewegt sich, Frauen schreien, Kinder verlieren im Gedränge ihre Eltern, alte Juden rufen ihren Gott תסעי ירףי und polnische Menschen beten um Eintritt in polnisches Gebiet, zeigen ihren Pass vergebens den poln. Beamten ...
Alle Menschen werfen sich zur Erde, stehen auf, hinwerfen, hin[unleserliches Material]iegen, jeder sucht einen Weg zum Durchlaufen, einen Weg aus der Bedrängung der gemeinen Soldaten ... ich fasse Mut – ich glaube eine Stimme sagte noch: Entrinne - , ich nehme das Köfferchen, die Geige von dem Virtuosen S. Broder und bahne mir einen Weg durch […] eine Lücke, vorbei an den Bajonetten der p. Beamten und laufe […]
Wenige Schritte als mich eine Stimme erreicht: Herr Lehrer nehmen […] sie mich mit, immer wiederholend und weinend, ich drehe mich um und sehe ein hilfloses Mädel mir entgegenlaufend, sich an mich mit zitternden Händen klammernd ... – und ich reiße das Mädel mit mir und laufe zur Landstraße, einen Wagen […] in der Ferne sehend, schreiend, : Hilfe, nehmt mich mit, zitternd, bebend, verfolgt von einem Mann auf dem Rade (sicherlich ein Beamter), […]
Geängstigt, gehezt, erschöpft schmeiße ich Koffer und Geige weg um nur mich und das Mädel zu retten und erreiche den Wagen atemlos und zitternd ... treffe Hannoveraner, die das gleiche erschütternde Erlebnis hinter sich hatten und weinend mit ein ergriffen von dem traurigen tragischen Galuth - Erlebnis mit mir in Tränen ausbrechen und beten. Ich […] sehe aus der Ferne meine beiden Wertsachen (Koffer und Geige) ich hole es nachdem ich mich einigermaßen erholt und so fahren wir ins polnische Grenzdorf Zbaszyn anרינ und treffen dort Tausende von Juden aus allen Teilen Deutschlands, und ein einzigartiges Bild jüdischer Tragödie und jüdischen Leids ein [unleserliches Material] Blatt jüdischer Geschichte, einאםמ וֻו.
Ausgehungert, ausgedurstet erreiche ich das Dorf Zbaszyn und sehe, man führt uns in einen großen Bauhof, an dessen in dem sich große Baracken befinden und überlässt uns dem eigenen Schicksal. Den armen Flüchtlingen wird Tee und Wasser gereicht, die wenigen Juden des Dorfes arbeiten Tag und Nacht um Hilfe zu leisten. (Grünberg) 7000 Juden sind über Nacht ihres Heimes beraubt worden, 7000 Juden von Zbaszyn klagen an und beten bei aller Rauhe[?] des Schicksals amרינ dem Hofe der Unglücklichen, beten inmitten von Koffern. Tagelang wird registriert ... morgens – mittags und nachts ...
Einige Menschen haben gewandert ins Innere Polens ... sind glücklich einen Zug zu bekommen ... der größte Teil ist gefangen in Zbaszyn und hungert und durstet. Man schläft in Scheunen, wo sonst Pferde standen, be man ist glücklich ein Nachtlager zu haben, ein Plätzchen mit Stroh und ein wenig Brot mit Butter. […] – Joseph Cysner: Memoiren des Kantors Joseph Cysner, entstanden während der Internierung in Zbąszyń, Oktober 1938.
Bedeutung im historischen Kontext
Die „Polenaktion“ war die erste große, zentral durch die Nationalsozialisten organisierte Deportationsaktion gegen Juden und gilt als Vorläufer der weitreichenden Vernichtungspolitik, die wenige Wochen später mit der „Reichspogromnacht“ begann und in den Holocaust mündete. Sie zerreiß zahlreiche Familien, zerstörte Lebenspläne und zeigte schon damals die gnadenlose Vorgehensweise des NS-Regimes.
Erinnerung und Gedenken
Jahrzehntelang blieb die „Polenaktion“ wenig beachtet. Erst seit den 1990er Jahren wird das Ereignis verstärkt in der Erinnerungskultur berücksichtigt, unter anderem durch Stolpersteinverlegungen, Ausstellungen und wissenschaftliche Aufarbeitung. Diese Initiativen tragen dazu bei, das Gedenken an die Opfer wachzuhalten und die Geschichte für nachfolgende Generationen erfahrbar zu machen.
Weiterführende Quellen:
- Porta Polonica: „Polenaktion“ 1938
- Jüdisches Museum Berlin : „Polenaktion“ 1938 – Ausführliche Darstellung mit Dokumenten, Fotos und Hintergrundinformationen zur Deportation.
- Bundeszentrale für politische Bildung: Novemberpogrom 1938 – Hintergrundartikel zum staatlich organisierten antijüdischen Pogrom am 9. November 1938.
- Bundeszentrale für politische Bildung: 9. November 1938 – Das Datum der endgültigen Grenzüberschreitung – Analyse des Pogroms und seiner historischen Bedeutung als Wendepunkt der deutschen Geschichte.
- Joseph Cysner: Memoiren des Kantors Joseph Cysner, entstanden während der Internierung in Zbąszyń, Oktober 1938.