Geschichte der Haftzellen

Mehrwert der Erinnerung für Lüdenscheid

Was wissen wir über die alten Polizeihaftzellen?

1907 wurde Lüdenscheid kreisfreie Stadt, seitdem unterstand die Polizei direkt dem Oberbürgermeister. lm Keller des Rathauses an der Wilhelmstraße gab es fünf Haftzellen und die Wohnung des Beamten, der für die Häftlinge zuständig war. lm Sommer 1933 richtete der Oberbürgermeister die Ortswache der SA im Dienstraum der Polizei im Rathaus (Raum 2) ein.

Da die Haftzellen der Polizei nicht mehr ausreichten, stellte im April 1942 das Amtsgericht auf Anweisung des OLG Hamm zusätzlich seine Haftzellen für die Deportation der jüdischen Bevölkerung auch aus der Umgebung Lüdenscheids zur Verfügung (vgl. Behrendt, Gobas).

1931 gab es in Lüdenscheid 31 Polizisten. Ab 1933 kamen viele Hilfspolizisten hinzu. 1945 waren hier 81 Polizisten eingestellt, von denen sich 56 in Gefangenschaft der Siegermächte befanden (s.o. S.51). Die internationale Forschung geht davon aus, dass die Hälfte der 6 Mio. jüdischen Opfer in Vernichtungslagern von der SS ermordet wurde, ein Viertel von "normalen" Polizisten, die dafür zu Polizeibataillonen zusammengezogen worden waren (dazu zählten auch die 56 Lüdenscheider Polizisten.), und ein Viertel von anderen deutschen und ausländischen Uniformierten.

Am Beispiel der Polizisten wird deutlich, wie schwer die Grenze zwischen Opfern und Tätern zu ziehen ist, denn viele starben bei den Einsätzen oder nahmen sich aus Verzweiflung das Leben - auch in den hiesigen Polizeihaftzellen (z.B. Karl G.).

Die Haftbücher der Polizei aus der NS-Zeit sind nicht mehr zu finden. Aber die Verwaltungsberichte der Stadt enthalten folgende Angaben:

Jahr 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940
Inhaftierungen 108 299 146 272 285 348 430 251 216
Gefangenen-Transporte --- --- --- --- --- 345 195 97 74

Übersicht über politische Häftlinge

In der NS-Zeit waren hier zuerst zusätzlich zu den Kriminellen zahlreiche Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter inhaftiert. Mehr als 50 von ihnen wurden von der SA, den Hilfspolizisten und den Polizisten gefangen genommen, die seit 1933 meistens zusammenarbeiteten. Schon am 24.4.1933 bestimmte die SA das Geschehen: "Dr. Schulte zur Oven wurde von Angehörigen der S.A. und der Partei in seiner Wohnung abgeholt, durch die Stadt geführt und schließlich bei der Polizeiverwaltung abgeliefert." (StA Lüd B-00-1)

lm Verwaltungsbericht 1941 - 1948 steht, dass 356 Lüdenscheider "als politisch, rassisch oder religiös Verfolgte anerkannt" sind (S.58). Viele von ihnen waren mehrfach in den Polizeizellen inhaftiert. Kommunisten, Verstorbene, Fremdarbeiter und andere Opfer, die keine Anträge stellten oder stellen konnten, fehlen. Die anonymen Zahlen zeigen, dass - wenn man die Zahl von durchschnittlich 100 Kriminellen pro Jahr in Lüdenscheid abzieht - jährlich 50 - 300 als politisch, rassisch und religiös Verfolgte in den Zellen oder in Ersatzzellen (Amtsgericht u.a.) gefangen gesetzt wurden. Das ergibt für 1933 - 1945 mehr als tausend inhaftierte Lüdenscheider Verfolgte. Ca. 50 (Juden, Kommunisten u.a.) wurden von hier aus in den Tod geschickt. Zu den Inhaftierten der Polizeizellen zählt auch der spätere Oberbürgermeister und Ehrenbürger Erwin Welke.

Seit der Einführung der Schutzhaft waren der kritische Bürger und der Ausgegrenzte zum willkürlichen Opfer des Staates geworden. Wie schlecht manche Häftlinge in Lüdenscheid behandelt wurden, berichtete am 27.1.2007 in der Gast? und Begegnungsstätte "Der Kleine Prinz" Herr Richard Oettinghaus: "Ich wohnte damals in der Luisenstraße. Wir Kinder spielten gerne rings um das Rathaus. Einmal fuhr ein Lkw vor und stellte sich vor das Rathaus. Ein Häftling wurde herausgebracht, von vier Uniformierten an den Armen und Beinen gepackt und wie ein Sack auf den Lkw geworfen."

In der Stadt gingen die Polizisten mit den jüdischen Lüdenscheidern anständig um, sahen aber zur Seite, wenn die Gestapo in Zusammenarbeit mit der SA Juden das Leben erschwerte. Jüdische Zeitzeugen berichten, dass nach der Pogromnacht die jüdischen Männer in die Polizeihaftzellen eingewiesen und dann mit Lastwagen nach Dortmund gebracht wurden. Von dort kamen sie in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Eine der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen aus Taganrog, die 1993 Lüdenscheid besuchten, erzählte, dass sie in eine Polizeizelle eingeschlossen wurde.

Die uniformierten Kräfte, besonders die Polizei, wurden von den Nationalsozialisten zur Durchsetzung der unmenschlichen Diktatur eingesetzt und missbraucht. Die damaligen Polizeihaftzellen im Keller des heutigen Alten Rathauses sind der zentrale und authentische Ort des nationalsozialistischen Terrors in Lüdenscheid und deshalb als Ge-Denk-Zellen für das wachsame demokratische Denken in Lüdenscheid die wichtigste Stelle.

"Man muss das Gestern kennen, wenn man das Morgen gut und dauerhaft gestalten will."
Konrad Adenauer (Erster Kanzler der BRD)

Die Landeszentrale für politische Bildung NRW unterstützt und finanziert die Gestaltung und Arbeit von Gedenkstätten.

(Forschungsstand: Okt. 2007, Matthias Wagner)

Ge-Denk-Zellen Altes Rathaus Lüdenscheid e.V.
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